Bad Homburg als Bildungsstandort
Herr Stadtverordnetenvorsteher,
Frau Oberbürgermeisterin,
Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages und des Hessischen Landtages,
Herr Staatsminister,
Herr Regierungspräsident,
Herr Landrat,
meine Damen und Herren.
Danke für die Einladung, heute vor Ihnen ein paar Gedanken über Bildung vorzutragen. Dies ist eine Ehre für mich und für die Institution – die Hochschule Bad Homburg – die mich von Frankfurt nach Bad Homburg gebracht hat.
Betrachten wir kurz zwei Städte, die eines mit HG gemeinsam haben: Ihre ungefähre Größe, ihre Einwohnerzahl. Stralsund, 55 T, und Greifswald, 53 T. Zwei Städte an der Ostsee mit großer Geschichte (Hanse), aber auch mit aktueller Bedeutung. Im vorigen Jahr waren die schwedische Königin und unser Bundespräsident in Greifswald zu Gast, in Stralsund der amerikanische Präsident und unsere Bundeskanzlerin. Besucht man diese Städte in normalen Zeiten, im Mai, im November, - und als Zweitwohnungsberliner tue ich das gerne – dann fällt sogleich auf: Greifswald ist jünger, lebendiger. Das liegt an der Universität dort – und das 550-jährige Jubiläum (150 Jahre davon unter schwedischer Krone) hat Königin Sylvia nach G. gebracht.
Warum erzähle ich das? Auch HG hat eine große junge Vergangenheit. Hierher kamen Prinz, König, Zar und Kaiser. Und die Bad Homburger Hochschule profitiert natürlich von dem guten internationalen Ruf der Kurstadt.
Schlägt man die offizielle Homepage der Stadt HG unter der Leiste „Kultur/Bildung“ auf, dann landet man bei der Volkshochschule. Das ist verständlich in einer Stadt, in der zehn v.H. der Einwohner älter als 75 sind. Ich glaube aber, dass die Stadt virtuell – d.h. im Netzauftritt – hinter dem zurückbleibt, was sich real auf dem Bildungssektor hier abspielt. Sehr gute Schulen, ein internationaler, bilingualer Kindergarten, eine ebensolche Grundschule, die im vorigen Jahr durch die hessische Kultusministerin und die Oberbürgermeisterin eröffnet wurde, Gymnasien mit exzellentem Ruf, seit zwei Jahren auch eine private Fachhochschule mit staatlichem Siegel und nun eine ganz junge Kooperation der Reimers-Stiftung mit der Goethe-Universität. Das ist nicht wenig, und das wird von der Stadt anerkannt und gefördert.
Bildung also ist das Thema meiner angemessen kurzen Ausführungen. Wir sprechen inzwischen wieder viel und häufig über Bildung; halten sie für wichtig, „für eine Investition in die Zukunft“ und „für unseren wichtigsten Rohstoff“ – damit habe ich erst einmal die beiden gängigsten Floskeln abgearbeitet.
Warum eigentlich ist Bildung wichtig? Und was ist Bildung? Warum haben wir sie so lange vernachlässigt?
Zuerst mögen wir die Begriffe klären. Information, Wissen und Bildung werden häufig gleichwertig nebeneinander gebraucht. Vielleicht können wir folgendermaßen unterscheiden: Bildung gilt als gesammeltes Wissen und einer daraus gewonnenen Haltung. Wissen wiederum ist die Kenntnis von Handlungs- und Sachzusammenhängen, vermittelt mit der Erfahrung, Richtiges von Falschem zu trennen. Damit ist Wissen etwas anderes als Vermutungen, als Meinungen, als Glaube. Informationen nun sind erst einmal zusammenhanglos: Sie können unvermittelt nebeneinander stehen. Wenn man die einzelnen Informationen in Zusammenhänge betten kann, entsteht Wissen. Und die Zusammenfügung des Wissens, verbunden mit der Fähigkeit, Kriterien für ihre Bewertung entwickelt zu haben, das macht Bildung aus. Wissen kann man übrigens nicht einsperren. Diktaturen haben das immer wieder versucht – ohne dauerhaften Erfolg, wie wir wissen.
Meine Damen und Herren, Deutschland galt spätestens seit Humboldt als d a s Bildungsland. So kam es, dass das Wort ‚Bildung’ kaum übersetzbar ist. Die Erziehung: education, éducation, educazione gibt es überall. Aber zur Bildung wird sie erst, wenn das vermittelte Wissen in Zusammenhängen gedacht, wenn es angewendet werden kann – und wenn es verbunden ist mit einer Haltung; wenn, um es in modernen Vokabeln zu benennen, das Ergebnis des Erziehungsprozesses ein ganzheitliches Bild ist: ein junger Mensch, der seine individuellen Fähigkeiten nutzt, sein Wissen verantwortlich einsetzt, soziale Kompetenzen hat, dazu Stil, Haltung; einer und eine, der und die eigene Gedanken denkt und eigene Lösungen findet. Dazu gehört, man kann es sich leicht denken, mehr als Gedächtnistraining. „Wir müssen nämlich nicht nur den Intellekt, sondern auch die Sinne und das Herz erziehen. Diese Erziehung des Gefühls wird durch die Künste geleistet.“ (Peter Burke). Darauf komme ich später noch einmal.
Aber was hat uns PISA – die international vergleichende OECD-Studie - beigebracht? Letztlich, dass wir zwar in unserer Sprache immer noch die beiden Begriffe haben: Erziehung und Bildung, dass andere Länder uns aber den Inhalt weggeschnappt haben – dass wir in Deutschland viel Wissen zu vermitteln versuchen, dass die finnischen und kanadischen und koreanischen Kinder das vermittelte Wissen aber besser anzuwenden vermögen. Dass wir jahrzehntelang die Chancengleichheit oder Chancengerechtigkeit – je nach politischer Couleur – beschworen haben, sie aber unter allen Industrieländern am schlechtesten realisieren.
Fast ein Viertel der 15-Jährigen geht ohne hinreichende Schreib- und Lesekenntnisse ins Leben. Festansprache hin oder her: Das ist für eines der führenden Industrieländer der Welt ein Skandal, meine Damen und Herren. Wir müssen das ändern.
In den Jahren, in denen wir in Deutschland ideologische bildungspolitische Schlachten geschlagen haben, haben die anderen Industrieländer ihr Bildungssystem mehrmals reformiert. Und damit kein Irrtum aufkommt: Die Fehler sind bei uns in beiden politischen Lagern passiert: Die eine Seite hat den Leistungsgedanken infrage gestellt und wollte am liebsten ein System für alle, die andere Seite hat die gesellschaftlichen Veränderungen und gewandelten Familienstrukturen nicht wahrhaben wollen und damit die Suche nach neuen Wegen von vornherein unter Generalverdacht gestellt. Das hat sich nun gottlob alles geändert; deswegen kann es jetzt nur noch bergauf gehen.
Bad Homburg war in all diesen Jahrzehnten sicher eher eine Insel der Glückseligen. Erstens ist die Zahl der Kinder, die aus sogenannten bildungsfernen Milieus stammen, hier um vieles geringer als in den großen Städten, in Industrieregionen und Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit. Das Thema Chancengerechtigkeit hat deswegen hier nicht die gleiche Brisanz wie nebenan in Frankfurt. Und zweitens gibt es hier nach meiner Beobachtung eine Tradition von aufgeklärtem Konservativismus, der ideologischen Verhärtungen abhold ist. Das hat der Anerkennung von Realitäten gut getan.
Und obwohl das so ist, gibt es nirgends, also auch hier nicht, Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Bad Homburg ist nicht die jugendlichste aller deutschen Städte, auch nicht die mit dem größten Bevölkerungszuwachs. Folglich könnte man sich schon gemeinsam überlegen, wie die hohen Steuereinnahmen und die hohe Kaufkraft der Stadt auf Dauer gewährleistet bleiben.
Meine These ist: Erst Bildung ermöglicht die ökonomischen Grundlagen, die dauerhaft sind. Ob wir das gutheißen oder nicht: Wir haben einen globalen Wettbewerb. Ihn werden die Gesellschaften für sich entscheiden können, die am meisten und intelligentesten in Bildung investiert haben. Warum? Weil in der heutigen technologischen Entwicklung, die wir alle täglich mit Staunen zur Kenntnis nehmen, nicht mehr die Material- und Produktionskosten der Maschinen den größten Teil des Wertes ausmachen, sondern ihre Entwicklung, die Software, das Design. Noch vor gut 30 Jahren war der Wert der Maschinen zu mehr als 50% durch ihr Material und die Herstellungskosten bestimmt. Heute sind dies 20%. Die Wertschöpfungskette hat sich geändert: Phantasie, Problemlösungskompetenz, Kreativität machen in der Regel heute fünf von zehn Euro in der Wertschöpfungskette aus – und das heißt auch, in manchen Arbeitsfeldern ist ihr Anteil noch deutlich höher.
Das alles bedeutet, Wachstum findet dort statt, wo Kreativität und Wissen im Überfluss vorhanden sind. Sie bestimmen am stärksten, welcher Standort entwicklungsfähig ist und welcher nicht. Ein führender deutscher Unternehmer hat dies in der Formel zusammengefasst: „Wir sollten beginnen, fehlendes Wissen als Risikofaktor zu begreifen.“
Und wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns eingestehen, dass dies die meisten Gesellschaften zu fast allen Zeiten gewusst haben. Menschliche Gesellschaften sind seit Jahrmillionen Wissensgesellschaften, lediglich die Dynamik, die Beschleunigung von Wissen hat kontinuierlich zugenommen. Und natürlich wussten die Altvorderen, was sie taten, als sie die Klöster verpflichteten, Schulen zu werden. Und erst recht, als sie, miteinander konkurrierend, Universitäten gründeten: Erst gründete Kaiser Karl IV. in Prag eine Universität, dann fühlten sich die Habsburger herausgefordert: Wien zog nach. Fast zeitgleich die Wittelsbacher: Die Heidelberger Universität wurde gegründet. Das Ganze spielte sich im 14. Jahrhundert innerhalb von weniger als 40 Jahren ab. Heute nennt man so etwas Standortpolitik.
In diesem Kontext ist es gut zu sehen, dass Bad Homburg diesen Bereich nie aus den Augen verloren hat: Ein breites Angebot allgemeinbildender Schulen, anerkannte Gymnasien und gute Berufsschulen haben hier schon lange Tradition. Und, das darf ich in eigener Sache sagen, es ist gut, dass aus der Berufsakademie eine Hochschule gewachsen ist, dass accadis ein Bad Homburger Bildungsunternehmen geworden ist, das inzwischen einen Kindergarten, eine Grundschule und eine Hochschule unter einem Dach vereinigt. Ein einigermaßen einzigartiges Modell. Und dafür, dass die Stadt Bad Homburg, dass die Stadtverordnetenversammlung, der Magistrat und die Oberbürgermeisterin mit ihren Möglichkeiten dieses Vorhaben unterstützen, darf ich mich an dieser Stelle, sicher auch im Namen von Frau Meinl-Kexel, sehr herzlich bedanken.
Fast könnte man auf den Gedanken kommen, die Zeit wäre reif für eine Bad Homburger Bildungskampagne. Bei meinem Frankfurter Historikerkollegen Johannes Fried fand ich folgende Passage über das Europa des 12./13. Jahrhunderts: „Lehrer, Schulen und Universitäten warben für sich: Sie böten die beste Wissenschaft, die bequemsten Studienbedingungen, die günstigsten Wohn- und Lebensmittelpreise, das lieblichste Klima, die schönste Landschaft, auch die herrlichsten Mädchen – alles im Superlativ.“
Ja, meine Damen und Herren, bis auf die günstigsten Wohn- und Lebensmittelpreise könnte man das doch übernehmen?! Im Ernst: Bildung, Wissensvermittlung, differenzierte Informationsverarbeitung können nur dort wachsen, wo eine Gesellschaft sie trägt, dort, wo ein Mentalitätenwechsel stattgefunden hat. Wir sind aufgefordert, die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger davon zu überzeugen, dass Bildung für ihre und ihrer Kinder Zukunft der entscheidende Politikbereich ist; dass Bildung der Bereich ist, der Menschen stark macht; der ihnen die Möglichkeit gibt, eigene Fähigkeiten zu fördern, eigene Defizite auszugleichen, eigene Talente zu stärken, um so ein selbstbestimmtes Leben führen, die Gesellschaft bereichern und sich selbst akzeptieren zu können.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Gesellschaft, dass die Stadt, die dies begreift und sichtbar macht, die Nase vorn haben wird. Bad Homburg bietet dafür gute Voraussetzungen.
Das beginnt mit dem Blick auf die Kinder. Erfolgreiche Bildungsgesellschaften haben Kindern gegenüber Respekt. Weder packen sie sie in Watte noch infantilisieren sie die Kleinen, sondern sie trauen ihnen etwas zu und schaffen für das Ausprobieren ihres Könnens die besten Voraussetzungen.
Kleine Kinder wollen eines ohne Ende: Sie wollen lernen.
Lernen heißt, Erfahrungen machen. Das können wir am besten, wenn wir außer pädagogischer Zuwendung auch Kontakt haben zu Menschen, die Profis sind, die mit Leidenschaft von dem etwas zeigen und erzählen, von dem sie wirklich Ahnung haben: der Schreiner und der Musiker, der Schuster und die Malerin, die Schneiderin und der Schauspieler, der Bäcker und der Tänzer – Handwerker und Künstler also, vielleicht auch eine Ärztin, ein Automechaniker, eine Handballerin, der Feuerwehrmann.
Jede Schulklasse, jeder Kindergarten sollte einmal in der Woche so jemanden zu Besuch haben, der oder die den Kindern etwas aus dem eigenen Alltag vermittelt.
Ich bin sicher, in Bad Homburg gibt es viele, die dazu bereit wären. Es bedürfte lediglich einer Bürgerinitiative, die das in die Hand nähme und organisierte. Das wäre doch ein guter Vorsatz für 2007!
Auf diese Weise könnten wir den Kindern Werte vermitteln. Ja, und Haltung. Sie erinnern sich, ich sagte vor einigen Minuten, das Ergebnis von Bildungsprozessen müsse ein junger Mensch mit Kenntnissen, Wissen, sozialer Kompetenz, eigenständigen Gedanken und Haltung sein. Die Begegnung mit der Lebenswirklichkeit kann hier mehr helfen als jede – gewiss wichtige - Unterrichtsgarantie.
Lassen Sie uns den Ehrgeiz entfalten, mit unseren Bildungsanstrengungen möglichst vielen jungen Menschen die Chance zu geben, so gut zu sein, so zu strahlen, dass sie mit Selbstbewusstsein in ein selbstbestimmtes, eigenständiges Leben gehen können.
Bad Homburg bietet dafür hervorragende Möglichkeiten. Ich möchte Sie mit meinen Worten lediglich darin unterstützen, ihre politische und bürgerliche Kraft für die wichtigste Aufgabe konzentriert zu nutzen: den nächsten Generationen die besten Voraussetzungen zu schaffen, ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen zu können. Das geht nur auf dem Fundament guter, ganzheitlicher Bildung.